Vom Vertrauen und Abkürzungen, die nie funktionieren

„Was heißt ‚zähmen‘?“, fragte der kleine Prinz.
„Das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“, sagte der Fuchs. „Es bedeutet: sich ‚vertraut machen‘.“
„Vertraut machen?
„Gewiß“, sagte der Fuchs. „Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebenso wenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt . . .“

Saint Exupery

Ich brauche dich nicht und du brauchst mich ebensowenig.

So war das, als ich Don Socke noch nicht kannte. Er war irgendein argentinisches Pferd, das in der Estepa lebte. Ich wusste nichts von ihm. Und er wusste nichts von mir. Wir waren Fremde füreinander.


Das war 2014 im November. Mittlerweile sind wir 8000 Kilometer gemeinsam unterwegs gewesen. Wir sind uns vertraut geworden. Ich vertraue ihm, wenn das Gelände schwierig wird und ich vertraue ihm, wenn er nicht durch sumpfige Passagen läuft. Manchmal. Manchmal ist er einfach nur übervorsichtig, so als „Steppenwolf“. Dann ehe ich voran und er kommt meistens nach.
Auch auf dieser Reise. Ich hatte ja gleich zu Beginn der Reise eine Begegnung mit patano, dem Sumpf. Er hat mich gewarnt und mir ordentlich Respekt eingeflößt. Es war eine heikle Situation, aber es ging nochmal gut. Wir schmatzten uns durch die sumpfige Stelle und es ging weiter.
Es gab noch eine Begegnung. Wochen später. Wir hatten schon viele Kilometer hinter uns. Wege und Irrwege. Ich bin wirklich nur ein mäßig guter Pfadfinder …
Gerade hatte ich aufgegeben einen neuen Weg finden zu wollen, weil wir nach einer Stunde uns immer noch nicht den Talaufwärtsweg befunden haben. Immer wieder endeten die von den Tieren getretenen Pfade im Nichts oder an für uns nicht passierbaren Passagen oder einfach am Fluss. Ich suchte und suchte und suchte. Der Pfad, der uns auf die Hochebene führen sollte, offenbarte sich uns nicht.
Gut. Loslassen habe ich ja gelernt. Es gab nicht wirklich eine Alternative, so dass ich eine ganz neue Idee formte. Dazu mussten wir ein Stück zurück reiten, dorthin, woher wir am vorherigen Tag gekommen waren. Du kannst dir das vorstellen wie einen riesigen Halbkreis zu reiten, um an den Punkt zu kommen, an dem der neue Weg losgeht. Immer schön rundherum, um die saftig grüne Malline.
Irgendwas hat mir die Idee in den Kopf gepflanzt, eine Abkürzung zu nehmen. (Abkürzungen sind immer eine blöde Idee – in der Persönlichkeitsentwicklung,im Wald und auch in Nordpatagonien!) Eine Abkürzung durch diese Malline, mitten durch dieses sumpfige Gebiet. Im Schlängellinientempo ging es voran. Ich vornweg, Don Socke am Führstrick, kurz gehalten und Canela im Schepptau. Jeden Schritt habe ich geprüft, dass wir gut durchkommen. Das ging ziemlich gut.
Bis wir vor einem kleinen Bächlein standen, dessen Ränder duch die auffällig hellgrüne Vegetation schon sehr nach Einsinken aussehen.
Puh, jetzt alles zurück und umkehren? Das wollte ich uns ersparen. (Weil es scheinbar der größere Aufwandwar.) Suchend laufe ich am Ufer hin und her. Der Gedanke: was nicht sein darf, kann nicht sein, trieb meine Suche an. Es muss doch irgenwo gehen!
Da. Eine schmale Stelle scheint passierbar. Ich entscheide hier zu queren. Ich prüfte die schwingende Grasmatte. Hält. Also mich, 60 Kilo.
Ich gehe zurück und hole Don Socke.
Er zögert.
„Komm, es geht!“ ermutige ich.
Er kommt.
Er vertraut mir.
Und … er bricht ein.
Bis zum Bauch steckt mein Pferd im Sumpf. Er müht sich und endlich! Spiritseidank! – kann er sich nach einigen Versuchen befreien. Dann liegt er erschöpft daneben und steht nicht mehr auf.
Blitzschnell befreite ich ihn von allem Ballast , Gepäck und Sattel, ich flehe aufgegt:
„Komm, hoch, komm, Söckchen, stehe auf!“
Ich bin völlig ahnungslos. Warum steht er nicht auf? Was ist passiert? Hat er sich verletzt?
Und dann plötzlich: mit einem Ruck steht er neben mir. Mit einem Wiehren meldet er sich zurück. Jetzt laufen meine Tränen.
Gottseidank!
Dieses Wiehren, ein kurzes eindrucksvollles Wiehen berührt mich zutiefst. Als wollte er sagen: ich gehe nicht unter!
Ich bebte, zitterte …
Canela steht am anderen Ufer und grast unberührt.
Schlammgebadet hüfte ich wieder auf die andere Seite.
Canela ist kleiner und leichter als Socke. Sicherheitshalber sattle ich alles ab, um sie von jeglichen Ballast zu befreien. Dann suche ich mit ihr zusammen eine neue Stelle, die wir passieren konnten. Es glückt. Unspektakulär queren wir.
So hatte ich mir das mit Don Socke auch vorgestellt. Er und das Leben aber haben mir eine Lektion erteilt.
Wie ist das mit dem Vertrauen?
Socke hat mir vertraut und ich habe sein Vertrauen enttäuscht. Nein, Pferde sind nicht nachtragend. Er hat mir sein Vertrauen auch später wieder geschenkt, was mich sehr demütig macht. Ich darf Fehler machen, ist seine Botschaft. Und ich darf daraus lernen. Immer und immer wieder.
Seit ich die Heldenreise kenne und lebe, weiß ich, dass der Schritt „Scheitern“ wesentlich ist, um alte Muster loszulassen.
Danke Leben, danke Don Socke.
Ich werde noch achtsamer, aufmerksamer und umsichtiger sein.

Und so ist das mit den Menschen, die ich kennengelernt habe. Es sind nicht mehr irgendwelche Argentinier, nicht mehr irgendwelche Gauchos, nicht mehr irgendwelche Kinder, Frauen und Männer. Sie sind keine Fremden mehr für mich und ich bin keine Fremde für sie. Wir sind uns vertraut geworden. Mal weniger, mal mehr und mal ganz sehr. Sie sind für mich einzigartig geworden. Sie sind Teil meines Lebens geworden und für immer in meinem Herzen.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..